Sonntag, 28. November 2010

Einführung

Die hier zusammengestellten Texte sind nicht fürs Internet geschrieben.
Sie sind zum einen im Zusammenhang mit der Arbeit in der Stadtentwicklungsplanung in Leverkusen und in der Kulturpolitischen Gesellschaft sowie im Verband Deutscher Städtestatistiker und zum anderen bei der ehrenamtlichen Arbeit in der Evangelischen Kirchengemeinde Leverkusen-Manfort entstanden.

Sie haben ihren Wert als Zeitzeugnisse aus einer zum Teil über 30 Jahre zurückliegenden Vergangenheit, sind aber zum Teil heute noch aktuell.

Die Evaluierung der Kulturarbeit wurde im März 1995 für einen Sammelband geschrieben. Doch an zwei ihrer Thesen lässt sich erkennen, dass sie auch heute noch nicht überholt ist:
Nicht technische, ökonomische oder ökologische Themen entscheiden über die Zukunft, sondern die Antwort auf die Frage, ob es dem Menschen gelingt mit sich selbst, mit seinesgleichen und mit der Umwelt so umzugehen, daß er überlebt.

Angesichts der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise, der Kriegsherde in Afrika und Nahost und anderswo, der Gewalt- und Terroraktionen überall auf der Welt von Afghanistan, Irak, Israel, Gaza-Streifen bis hin zu Amerika – vgl. Guantanamo – ist es entscheidend wichtig, sich zu besinnen, dass die ökologischen Probleme wie Erderwärmung und Wasserknappheit noch weit mehr Gefahren und Konfliktpotential enthalten als die im Bankenwesen heraufbeschworenen Fehlsteuerungen im Wirtschaftsbereich.

Zum Begriff der Identität:
Es gehört dazu die Erkenntnis, daß ohne die Vergangenheit die Gegenwart ohne Aussagekraft bleibt und die Zukunft ohne Ziel. Niemand wird ein mündiger Bürger, ein verständnisvoller Nachbar und ein opferbereiter Sozialpartner sein, wenn ihm die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht als ein Gemeinsames bewußt sind. Das gilt für den einzelnen wie für die gesellschaftlichen, nationalen und ethnischen Gruppen gleichermaßen.

Heute sehen wir ganz deutlich, wie Gewerkschaften, politische Parteien, Kirchen und die meisten gesellschaftlichen Gruppen nach ihrer Identität im 21. Jahrhundert suchen.
In der Politik gestaltet es sich am dramatischsten: Der Wechsel von Edmund Stoiber zu Horst Seehofer als bayrischer Ministerpräsident und Vorsitzender der CSU und wichtiger noch in den USA der Wechsel von George Walker Bush zu Barack Hussein Obama zeigen eine Identitätssuche und den Versuch einer Neubestimmung an.

Zugang und Einstieg in den umfangreichen Text werden durch ein Thesenpapier erleichtert, außerdem gibt es eine Kurzfassung, die gesondert erschien. ("Kultur und Bildung - Wege zur Neubewertung aus der Sicht der Stadtentwicklungsplanung" in Max Fuchs/Christiane Liebald "Wozu Kulturarbeit?", Remscheid, 1995, ISBN 3-924407-37-1, S. 154 - 158).

Nun zum Tagungsrückblick auf die 6. Konferenz des Arbeitskreises Kulturstatistik am 18.03.1992 beim Deutschen Städtetag in Köln. Dort heißt es u.a.:
Nicht nur dem einzelnen fällt es immer schwerer, sich mit seiner Lebenswelt abzufinden, sie als eigene zu akzeptieren, d.h. eigenständige Antworten auf die Fragen Wer bin ich? und zwar woher komme ich? wo stehe ich? und wohin gehe ich?
Auch gesellschaftliche Gruppen, Staaten und Nationen haben an diesem Punkt zunehmend Schwierigkeiten. Auf der Tagung klang an, daß die Identitätsarbeit in Deutschland heute die Selbstfindungsprozesse sowohl in Osteuropa morgen als auch im freien "Europa der 12" in den kommenden Jahren fördern und erleichtern könnte.

Man kann dabei an Frau Merkel - heute Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, vor zwanzig Jahren Bürgerin der DDR - denken. Und an die stets wachsenden Probleme der Europäischen Union bei den laufenden Erweiterungsschritten und bei dem Versuch, sich als weltpolitischer Partner einer kooperationsbereiteren USA zu positionieren. (Inzwischen ist auch ein Referat Von der Legitimitätsstatistik zur Strukturstatistik von 1982 beigefügt.)

"Unsere Kirche - Struktur und Praxis" ist ein Versuch, die Binnenstruktur der Rheinischen Landeskirche für die Gemeinde nachvollziehbar verständlich darzustellen und sie Erfahrungen aus der Praxis gegenüberzustellen. Der Text ist seit 2005 nach und nach in Gemeindebriefen entstanden. Was aber ist hier das Besondere?
Das grundlegende Element ist die Tatsache, daß ein Laie sich einmal auf die Darstellung der wahrhaft komplexen Struktur seiner Kirche einläßt und darüber hinaus, Schwierigkeiten - wenigstens in Auswahl und aus persönlicher Sicht – anspricht. In den beiden jüngsten Artikeln ist etwa das Thema Psychologie in Verhältnis Pfarrer und Gemeindemitglied ("Übertragung") und von Pfarrer und Gemeinde ("Massen-Psychologie") aufgegriffen worden - in einer hoffentlich noch vertretbaren Verkürzung, um für Gemeindemitglieder in ihrer Mehrheit noch verständlich zu sein. Es sind beides Themen, über die niemand offen spricht, die aber manchem Gemeindemitglied den Weg zum Verständnis für andere eröffnen können, einen Weg, der ihm bisher verschlossen war. Auch die manchem engagierten Gemeindemitglied als bedrohlich erscheinende Organisation Kirche erscheint so weniger fremd.

Als nächste Kategorie finden Sie Predigten aus 26 Jahren Predigttätigkeit in meiner Heimatgemeinde - und als Gastprediger im Kirchenkreis Leverkusen. Eine spontane Äußerung zu dem Plan, meine Predigten ins Netz zu stellen: "Helmut Böhme: Predigten ins Internet? - Da gehören ganz andere hin!" - Recht hat diese Auffassung! Theologischen Tiefgang, sprachliche Brillanz und neue weiterführende Gedanken oder gar Handlungsansätze bieten meine Predigten nicht. Sie sind - wie jede Predigt - der ernsthafte Versuch, mit menschlich unzulänglichen Mitteln "das Wort Gottes in unsere Zeit hinein zu sagen", wie eine Formel zu diesem Thema lautet. Wenn sie sich aber nicht von anderen unterscheiden, weshalb stehen jetzt so viele von ihnen im Netz? Es geht natürlich auch hier um die Stellung des Christen in der Welt und nach der Heilsbotschaft Christi in einer unheilen Welt. Das unterscheidet sie nicht von anderen. Ein besonderes Merkmal ist die Kontinuität über den langen Zeitraum. Für mich war verblüffend, was in diesem langjährigen Vergleich thematisch festzustellen ist.
Hier einige Beispiele:
Am 30. Juni 1976 stirbt die 23-jährige Studentin der Pädagogik und Theologie Anneliese Michel in Klingenberg bei Aschaffenburg. Als Epileptikerin fand sie keine Heilung. Die frommen Eltern ziehen Priester hinzu. Mit Genehmigung des Bischofs beginnt eine Teufelsaustreibung. Nach dem Tod stellen Schulmediziner fest, daß Frau Michel verdurstet und verhungert ist. Die Teufelsaustreiber melden den erfolgreichen Abschluß ihrer Aktion: Mindestens zwei Teufel sind ausgetrieben, einer habe den Namen Nero getragen.
(Predigt vom 01.05.1977).
In Februar 2002 erklärt der überzeugte evangelische Christ George Walker Bush (jun.) der "Achse des Bösen" den Krieg und er nennt auch die Staaten, die dazu gehören - während seiner zweiten Amtszeit scheint diese Achse ganz so böse nicht zu sein (Predigt 10.02.2002).
Im Januar 1991 läuft das Ultimatum des USA-Präsidenten George Bush (sen.) gegenüber Saddam Hussein, dem Präsidenten des Irak ab. Man muß mit Krieg rechnen. Drei Tage zuvor eine Predigt über Jesu Taufe (Matth. 3,13-17) mit Taufe im Gottesdienst:

Selten war es den Menschen auf dieser Erde so bewußt wie heute, an diesem ersten Sonntag nach dem Epiphaniasfest im Jahre 1991, daß wir alle in Gottes Hand stehen und immer wieder seine Liebe zu uns verraten - ob wir das wollen oder nicht.
(Predigt 13.01.1991). Mit dieser Predigt steht auch die am 24.03.1991 in Zusammenhang.
Am 11.September 2001 haben fanatische Terroristen drei Linienmaschinen privater Fluglinien in ihre Gewalt gebracht und sind gezielt gegen» die Türme des World Trade Center in New York geflogen. Sie brachten beide Türme zum Einsturz und lösten unterschiedliche, weitreichende Kettenreaktion aus.
Wir warten auf das, was kommt: Die Reaktion der USA. ... Terroristen isolieren sich und ihre Gesellschaft. Sie sind Auserwählte ihres Gottes - nur sie. Es wäre gewiß sinnvoll und hilfreich, wenn christliche Kirchen sich ein eigenes Leitbild gäben. Ihres ist viel komplizierter - und wohl auch tragfähiger. Ihre Triebfeder, die Liebe, ist deshalb auch stärker als der Haß der Terroristen, weil sie alle Menschen umfaßt und die lebensbejahenden Kräfte stärkt
(Predigt vom 23.09.2001).
Aber nicht nur hohe Politik, auch konkrete örtliche Fragen sind grundsätzlicher Art. Die Kirche einer Nachbargemeinde soll verkauft werden. Noch ist keine Entscheidung gefallen. Die Zeitung fragt in der Woche vor dem 4. Advent, ob die Glocken das letzte Mal zur Weihnacht läuten.
Nicht nur zur Versammlung ruft die Glocke, sondern auch zur Sammlung. ... wissen wir, wieviele Menschen beim Klang der Glocken still werden? ... Der Klang der Glocken ist nicht nur ein Aufruf und ein Anruf, er ist auch ein Zeugnis. .... Advent 1983 - wird es der letzte Advent in der Pauluskirche sein? Wir wissen es wohl nicht. Es ist gewiß gut, dieses Haus Gottes und seine Bedeutung für die Menschen ... sorgfältig zu prüfen - auch das, was als Alternative für andere mögliche Nutzungen erwogen wird. ... Dennoch sollten wir daran denken, daß unsere Häuser und Türme vergänglich sind und äußere Form bleiben. Ihren Sinn und Inhalt gewinnen sie erst durch das, was in ihnen und mit ihnen geschieht.
(Predigt vom 18.12.1983).
Ich hoffe, es ist deutlich geworden, daß die "alten“ Predigten auch nach mehr als 20 Jahren immer noch aktuelle Themen berühren. Inzwischen sind z. B. in Leverkusen eine evangelische und eine katholische Kirche verkauft. Ob andere zum Verkauf oder zur Nutzungsänderung anstehen, ist mir nicht bekannt - aber nicht ausgeschlossen.

In unserer Kirchengemeinde mit einer Pfarrstelle hat es einige Jahre Predigtreihen gegeben, in denen der Pfarrer, zwei Predigthelfer und ein Lektor vier Sonntage in Folge zu einem übergreifenden Thema gepredigt haben, hier: Predigten am 31.03.1996 und 23.09.2001.

Besonders wichtig waren mir die ökumenischen Wochen, in denen wechselweise in der evangelischen Johanneskirchengemeinde und in der katholischen Kirchengemeinde St. Joseph Bibelwochen gehalten wurden. Zum Abschluß der Woche wurde jeweils in der anderen Kirche ein Abschlußgottesdienst gehalten. Ich hatte Gelegenheit, in der katholischen St. Joseph-Kirche diese Gottesdienste zu halten am 26.01.1996, 21.09.1997 und am 15.03.2002. Der Tod des katholischen Pfarrers und die seither noch verstärkt einsetzende Umstrukturierung und Konzentration in der katholischen Kirche hat eine Fortsetzung dieser Praxis in der bisherigen Form nicht mehr möglich gemacht.

Als letztes möchte ich noch die Leserbriefe erwähnen, die direkt im Anschluss an diese Einführung stehen. Sie berühren Themen, die mir auch wichtig sind, die sich aber in den umfangreicheren Texten nicht so prononciert niedergeschlagen haben: Verantwortung des hauptamtlichen Bürgermeisters, Automobilindustrie, "Gewinn" oder "Ehre"?, Atomkraft.

Freitag, 20. März 2009

Verantwortung des hauptamtlichen Bürgermeisters

Leserbrief zum Artikel "Wir wissen, was passiert, nicht warum" im Kölner Stadt-Anzeiger 66 vom 19.03.2009.

Herr Oberbürgermeister Schramma/Stadt Köln bezeichnet sich in einer Fernsehsendung im Zusammenhang mit dem Einsturz des Historischen Stadtarchivs am 03.03.2009 als „Kümmerer“, der sich um die Folgen der Katastrophe zu kümmern habe und den betroffenen Menschen beistehen müsse. Das ehrt ihn - als Person und als christdemokratischen Pädagogen, Pädagoge, vermutlich auch als vom Rat gewählten Repräsentanten der Stadt.
Er ist aber der von der Bevölkerung gewählte Repräsentant und Chef der Verwaltung. In dieser Funktion geht seine Auffassung an der Realität vorbei. Es dürfte sich empfehlen, die Juristen seines Hauses prüfen zu lassen, ob die hoheitlichen Aufgaben der Bauaufsicht - ob beim Bau-, Rechts- oder Umweltdezernenten - in ihrer Gesamtheit oder in Teilen auf eine privatrechtliche Organisation übertragen werden kann. Darüber hinaus wäre zu prüfen, ob eine solche Übertragung - wenn zulässig - übertragen werden kann an den Auftraggeber einer Großmaßnahme in der Stadt für genau diesen Maßnahmekomplex. Schließlich frage ich mich, ob zur Bauaufsicht über ein solch umfassendes Großprojekt nicht die kontinuierliche bauaufsichtliche Begleitung gehört.
Man kann der Person Schramma vermutlich nicht zum Vorwurf machen, dass er seine Pflichten als Chef der Verwaltung nicht kennt. Dazu hat er seine Fachleute, die ihm die Details seiner Verantwortung und Handlungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten vermitteln. Er ist aber nun schon einige Jahre Chef der Verwaltung. Da ist es eine grundlegende und nach außen hin erschreckende Fehleinschätzung seines Amtes, wenn er vor dem Hintergrund dieser Katastrophe als erstes feststellen kann: „Ich habe diese Dinge nicht in Verantwortung.“ –
Man mag später genauer feststellen, ob er juristisch, politisch oder moralisch Mitverantwortung trägt. Aber er steht für die Stadt – politisch und als Verwaltungschef - und als solcher ist er mitverantwortlich.
So sieht die Sachlage für mich von außen aus. Er wäre hilfreich, wenn diese Fragen innerhalb der Kölner Stadtverwaltung umfassend abgeklärt und dem Oberbürgermeister die Ergebnisse der Prüfung nahe gebracht werden könnten. Das würde dem Ansehen der Stadt Köln, aber auch dem Selbstverständnis der Bürgermeister in diesem Lande einen großen Dienst erweisen.

Mittwoch, 18. März 2009

Qualifiziertes Wachstum

Leserbrief an den Kölner Stadt-Anzeiger zur Finanzspritze an die Autoindustrie

Jetzt ist die Chance für eine lang angelegte, grundlegende Strukturveränderung:
Die Automobilindustrie teilt die Position als Schlüsselindustrie mit anderen zukunftsfähigen Industrien wie Umwelttechnologie. Arbeitskräfte, Zulieferer müssen sich umstellen. Insgesamt verlagert sich das Risiko. Alle hätten weniger Wachstum, vielleicht weniger Umsatz. Aber es erhöht sich die Chance eines qualifizierten Wachstums – inneren Wachstums: weniger Elektronik, weniger Sprit, mehr Stabilität – und die Herausforderung, kreativ zu werden, vielleicht auch Flexibilität zu entwickeln.
(November 2008)

"Gewinn" oder "Ehre"?

Leserbrief an den Kölner Stadt-Anzeiger betreffend Fernsehpreise (in den Nummern 239 und 240 2008)

Bei der Lektüre der heutigen Ausgabe Ihrer Zeitung ist mir aufgefallen, daß ein grundlegendes Mißverständnis weit verbreitet ist. Das erste Mal fiel mir dies Mißverständnis auf als ich las oder hörte, ein Preisträger habe den Nobelpreis "gewonnen". Heute lese ich auf der Leserbriefseite von den "Gewinnern" der Fernsehpreise.
Nach herkömmlichen Verständnis werden in diesen Fällen die Preisträger wegen ihrer Leistung "geehrt". - Das wird deutlich am Beispiel Reich-Ranickis. Er hat sich an keinem Preisausschreiben beteiligt, an keinem sportlichen oder sonstigen Wettbewerb beteiligt, sondern "seine Lebensleistung" ist vor dem Hintergrund seiner Biographie und der Zeit, in der er lebte, einmalig.
So, wie die "Preise" heute verliehen werden, kann man durchaus den Eindruck gewinnen, es fände eine Preisverleihung am Schluß eines Wettbewerbs statt - nicht nur unter den "Bewerbern" als Person, sondern auch unter den Fernsehanstalten und vielleicht auch noch unter anderen Institutionen im Hintergrund, die der Zuschauer nicht kennt.
Seit 1945 bin ich mit dem Begriff "Ehre" - auch mit dem heute wieder aufkommenden Begriff "Helden" - sehr zurückhaltend. Ich halte es lieber mit der "Würdigung" einer herausragenden Leistung, einer "Lebensleistung“ oder einer Persönlichkeit.
In diesem Sinne kann sich Herr Reich-Ranicki durchaus auf der falschen Veranstaltung gesehen haben.
Ihr Blatt hat meines Erachtens nicht die Verwechslung von Gewinn und Ehre vorgenommen. Es stünde ihm aber gut an, die Konsequenzen dieser Begriffsverwirrung mit ihren kulturellen Folgen kritisch zu begleiten.
(14. Oktober 2008)

Dienstag, 10. März 2009

Klimawandel und Atomkraft

Ein Leserbrief an die ZEIT bezogen auf folgende Artikel aus der Nr. 29 vom 10.07.2008

"Zurück zur Atomkraft?"
PRO von Andreas Sentker
CONTRA von Fritz Vorholz

"Neu angereichert" von Brigitte Fehrle
"Europas Selbstbetrug" von Marcia Pally

Zunächst Dank an Frau Pally! Viele vermuteten es schon lange, manche sprachen es offen aus, Frau Pally hat es in schöner Offenheit erklärt: Motor der amerikanischen Außenpolitik ist über die Jahrhunderte hinweg immer die Wirtschaft, etwa in dem Sinne: Was der Wirtschaft nützt, ist gut für die USA. Der Einsatz für Menschenrechte, für Demokratie, Präventivkriege zur Erhaltung des Völkerfriedens sowie zur Verteidigung der Freiheit, die Achtung von Waffenproduktion und -handel, dies alles muß sich dem herrschenden Grundsatz des wirtschaftlichen Wohlergehens unterordnen. Wenn es not tut, dann wird dies alles hinfällig und durch Zusammenarbeit mit und Unterstützung von Diktaturen und kriminellen Vereinigungen, wie etwa der Drogenmafia, ersetzt.
Eine ähnlich klare Sicht der Dinge könnte auch Europa und besonders Deutschland helfen. Nehmen wir aus aktuellem Anlaß das Thema der Atomkraft.
Mich stört seit Beginn der Diskussion vor Jahren schon, daß die Halbwertzeiten der Elemente Plutonium (Pu) mit maximal 82 Mio Jahren und Uranium (U) mit maximal 4,5 Mio Jahren in der öffentlichen Debatte keine Rolle spielen. Herr Sentker verweist darauf, daß lange strahlende Atomabfälle in kurzlebige verwandelt werden sollen und damit auch die endgültige Lösung der Endlagerung sichtbar wird.
Andere Vertreter der PRO-Seite betonen, Kernenergie sei umweltschonender und preiswerter als die Energie aus anderen Quellen. Die Abwärme der Kühlwasser und die sich mit der Zeit häufenden Zwischenfälle dürften die bisherige Umweltbilanz der Kernenergie spürbar belasten. Hinzu kommt die Gefahr langfristig kaum beherrschbarer Kettenreaktionen in dem Fall, daß im radioaktiven Bereich ein Initialereignis ausgelöst werden sollte. Preiswerter kann Kernenergie nur dann sein, wenn die langfristigen Folgekosten - sowohl was die Umwelt als auch den Lebensraum der Menschen angeht - nicht in die betriebswirtschaftliche Kostenrechnung eingehen. Ich denke z.B. an die Kosten für Abtransport und Endlagerung radioaktiver Abfälle, die Sicherheit der Endlagerstätten und die Frage, wo und zu welchen Kosten weitere Endlager verfügbar gemacht werden sollen, wenn - wie die Atomlobby fordert - die vorhandenen Kernkraftwerke länger am Netz bleiben sollen und neue in das Netz eingegliedert uerden. Mir kommt diese Entwicklung so vor wie die Situation des Zauberlehrlings bei Johann Wolfgang von Goethe "Herr, die Not ist groß! Die ich rief, die Geister, werde ich nicht wieder los!"
Herrn Sentkers Lösung, Hunderttausende in einige hundert Jahre umzuwandeln, scheint mir nicht das lösende Wort des Hexenmeisters zu sein: "In die Ecke, Besen! Besen! Seid’s gewesen."
Herr Vorholz jedenfalls erliegt nicht dem "Selbstbetrug" und erkennt, daß es die wirtschaftlichen Aspekte sind, die Kernkraftwerke, sind sie einmal abgeschrieben, erst zu der eigentlichen Geldquelle werden lassen - für Betreiber und Aktionäre.
Ran mag mich für uninformiert halten, alte Themen, die längst ausdiskutiert seien neu aufwärmen, die Aktualität der politischen Herausforderung nicht erkennen - das mag alles sein. Aber die politische Diskussion in der Öffentlichkeit sollte die sachlichen Gründe und Motive nennen und ausdiskutieren, damit der einfache Mensch die zentralen Fragen erkennt und die Lösungsvorschläge mit ihren Konsequenzen einschätzen kann. Vor diesem Hintergrund ist die Frage der Halbwertzeiten nicht ausdiskutiert und die ausschlaggebende Kraft wirtschaftlicher Argumente im Sinne, was der Wirtschaft nützt ist gut für Europa und auch für Deutschland - zumindest suspekt.
Brigitte Fehrle deutet das an: "Noch schläft die Anti-AKU-Bewegung -während die Atomlobby etwas zu laut frohlockt. So lautet die Unterzeile zu ihrem Bericht einer Reise von Gorleben über München nach Hokkaido. Aber "Anti"- genügt nicht.
Frau Pally deutet einen anderen Aspekt an, wenn sie schreibt: Unabhängig davon, was man unter ethischen oder politischen Gesichtspunkten von Bushs Politik hält, ungewöhnlich ist sie nicht." Sie fährt allerdings fort: "Amerikas nationale Interessen werden sich auf lange Sicht nicht ändern." In der Erkenntnis dieser Realität darf Europa und mit ihm auch Deutschland einen Blick in die Zukunft über nationale Grenzen hinweg richten und Wege dahin aufzeigen.
Zwei amerikanische Historiker können uns dabei hilfreich sein. Paul Kennedy hat in seinem Buch "In Vorbereitung auf das 21. Jahrhundert" schon 1993 darauf hingewiesen, daß Europa auf dem Weg", nationale Egoismen zugunsten einer übernationalen Gemeinschaft neuer Art zu überwinden, weit fortgeschritten ist. Wir wissen, daß es Fortschritte und Rückschläge auf diesem Weg gab. Dennoch habe ich den Eindruck, daß es insgesamt ein Fortschritt war - und nicht nur wirtschaftlicher Art -, den Europa und mit ihm Deutschland seit 1993 zurückgelegt hat. Der zweite Historiker aus den USA ist Fritz Stern, dessen beeindruckende Lebenserinnerungen - - "fünf Deutschland und ein Leben" nicht nur davon, sondern auch von einem Leben in den USA und ein Forscherleben für internationale Organisationen berichtet. In unserem Zusammenhang ist bedeutsam, daß sein Lebensbericht Menschen in den USA nennt, die sich "Liberale" nennen - und das ihrem Tun und ihren Motiven nach offensichtlich auch sind, anders als zur Zeit in Deutschland.
Das alles gibt mir Hoffnung, daß die Politik in Deutschiland und Europa Wege in die Zukunft finden wird jenseits aktueller Wahlkampfparolen und vordergründiger Argumentationen. Ob die Politiker den Weg finden, weiß ich nicht. Gelegentlich zweifele ich daran. Vielleicht ist es sogar die Wirtschaft selbst, die erkennt, daß ihre Instrumente für die Lösung langfristiger Probleme nicht ausreichen insbesondere jenseits wirtschaftlicher Interessen.
Es gibt jedenfalls auch ein anderes Amerika als das, was uns Frau Pally beschreibt, selbst wenn es nicht die Entscheidungen in der Politik trifft. Es gibt sicher auch in Europa wie in Deutschland Kräfte, die weiter blicken als die Wirtschaft zu denken vermag -insbesondere in größeren Kategorien.

• Friedrich von Schiller wußte:

Die Welt wird alt und wieder jung,
doch der Mensch hofft immer Verbesserung!
Denn beschließt er im Grabe den müden Lauf, noch am Grabe pflanzt er - die Hoffnung auf.

Unsere Zeit hat dieses Wissen in die Redensart gefaßt:
Die Hoffnung stirbt immer zuletzt.